Er war die Errungenschaft meines letzten Geburtstags: Mein erster eigener Selfie-Stick. „Als Reiseblogger brauchst du so was!“, hatte meine kleine Schwester gemeint. Für alle, die die touristische Revolution der letzten zwei Jahre verschlafen haben: Ein Selfie-Stick ist eine ausziehbare Stange mit Halterung für das Smartphone auf der einen, und mit einem Auslöser zum Fotografieren auf der anderen Seite. Euch ist klar, was das bedeutet? Keine peinlich berührten Gespräche mit Passanten, nur um Erinnerungsfotos zu bekommen, welche dann doch wieder verwackelt sind.
Ich hatte mir vorgenommen mich selbst vor den Wundern Mexikos in Szene zu setzen.
ICH bei den Pyramiden von Teotihuacán
Es ist gar nicht so einfach allein zu lächeln. Ich hatte brav mit der Stange in der Hand gewartet, bis die anderen Touristen den Weg zum Fotopunkt frei machten. Die Sonne blendet mich. Vor mir stehen genervte Touristen, die auch endlich dran kommen wollen.
Klick Klick Klick
Allein-Lächeln funktioniert nicht. Ich brauche dringend Reisefreunde. Nun hatte ich während des Sabbaticals vor eineinhalb Jahren gelernt, wie man auf Leute zugeht. Nur war ich da halt auch eineinhalb Jahre jünger. Ob es immer noch funktioniert? „Kannst Du ein Foto von mir machen?“ frage ich eine kleine Frau mit großer dunkler Sonnenbrille auf Spanisch. Sie kann. Paula heißt sie und kommt aus Madrid. Wir verlieren uns in einem Wo-warst-du-schon-wo-gehts-als-nächstes-hin-Gespräch. Die Basis für großartige Urlaubsfotos auf den ehrwürdigen Pyramiden der Azteken. Denn Lächeln ist so viel einfacher, wenn man es für jemanden tun kann.
Zwischenfazit 1: Ein Selfie-Stick schützt effektiv vor Kontakt zu netten Menschen
ICH bei der Maya-Pyramide von Chichén Itzá
Ich hatte im Hostel letzte Nacht ein argentinisches Pärchen kennengelernt. Die schöne Mariana und den witzigen Nacho. Beide versuchen sich auch als Reiseblogger. Nicht ohne Erfolg. Immerhin schon 700 Facebook-Fans. Doppelt so viele wie ich. Dafür liege ich auf Twitter und Instagram knapp vorn. Reiseblogger haben eine etwas merkwürdige Art die Sehenswürdigkeiten der Welt zu würdigen. Sie sind die Extrem-Form des dokumentationssüchtigen Touristen. Nacho macht mit dem Smartphone Schnappschüsse für die schnellen Facebook-Likes. Mariana operiert die komplexe Spiegelreflex-Kamera für hochqualitative Erinnerungsfotos. Einen Reiseführer holen wir uns nicht. Als Rucksack-Reisende müssen wir sparen. Und die Infos zu den Fotos können wir uns später immer noch im Netz zusammensuchen. Chichén Itzá wurde in den 2000ern zu einem der „neuen sieben Weltwunder“ gewählt. Ich lasse mich vor der Wunder-Pyramide aus verschiedensten Blickwinkeln fotografieren. Irgendwie wird das Motiv mit mir nur einfach nicht schöner.
Zwischenfazit 2: Selfie-Stick hin oder her … Manche Fotos brauchen einen nicht.
Am selben Tag, kur vor Mitternacht, am Busbahnhof. Wir haben uns vorsichtshalber schonmal in unsere dicksten Klamotten gehüllt. Vor uns liegt eine frostige Fahrt im Nachtbus nach Palenque. Als ich spontan beschließe, den Selfie-Stick hervorzuholen.
ICH bei den Maya-Tempeln von Palenque
Palenque ist magisch. Alte Maya-Ruinen, mitten im Dschungel. Mit Brüllaffen, die verborgen im Dickicht, die musikalische Begleitung bieten. Als wäre man in einen Indiana-Jones-Streifen geplumpst. Auf der Suche nach dem perfekten Foto-Motiv.
Nacho wird übrigens von einer argentinischen Surf-Marke ausgestattet. Seine Kleidung muss daher auf möglichst vielen Fotos auftauchen. Ich fasse erneut Mut den Selfie-Stick zum Einsatz zu bringen: Handy-Kamera auf Selfie-Modus stellen. Stange ausfahren. Bluetooth aktivieren. BLINK BLINK. Die Batterie des Selfie-Sticks ist aufgebraucht. Als moderner Reiseblogger hat man neben Laptop und Smartphone, nun also noch ein Gerät um dessen Ladezustand man sich sorgen muss.
Zwischenfazit 3: Nur ein geladener Selfie-Stick ist ein guter Selfie-Stick
Zum Erinnerungs-Foto kommen wir trotzdem. Der alte Frage-Trick hilft. „Können Sie ein Foto von uns machen?“ „Ja, klar.“ „Und kann ich Ihren Hut für das Foto aufsetzen?“ (zögernd) „OK.“
ICH und Frida
Heute bin ich ohne Begleitung. Und das soll auch so bleiben, denn ich will alles über sie wissen: Frida Kahlo – die Meisterin des Selbstporträts – einer Frühform des Selfies. In Mexiko Stadt besuche ich das Haus, in dem sie geboren, gestorben, aber vor allem gelebt hat. Trotz all ihrer Schmerzen. Nach einem Verkehrsunfall, bei dem sich eine Stange durch ihr Becken bohrt, zweifeln die Ärzte, ob sie je wieder laufen wird. Sie erleidet mehre Fehlgeburten, wird vom Ehemann – dem großen Künstler Diego Rivera – mit ihrer eigenen Schwester betrogen und bekommt schließlich auch ein Bein amputiert.
Über Fridas Bett hängt ein Spiegel. Sie kann sie daher in aller Ruhe studieren: Die leidende Frida. Und sie wird diese Frida nehmen und sie in ihre Bilder packen. Hinein in surreale Farbwelten. Mit all ihren dunklen Gefühlen, und all ihrem Schmerz. Doch obwohl es diese Frida ist, die in Ölfarben konserviert wurde, wird die Nachwelt eine andere erinnern. Eine, die mit nur ein paar Pinselstrichen aus Schmerzen Kraft werden ließ. Eine Frida mit lebensbejahendem Lächeln. Auf ihrem letzten Bild erscheint sie nicht. Dafür ein Satz „Viva la vida.“ „Lebe das Leben.“ Vielleicht ist sie ja das größte Wunder Mexikos.
Über UNS in dieser Welt
Kann es sein, dass ein derart albernes Produkt, mit einem vor Zweideutigkeit nur so strotzenden Namen, wie der Selfie-Stick, Besonderes hervorbringen kann? So wie der Pinsel von Frida Kahlo? Eine besondere Möglichkeit uns selbst mit all unseren Facetten in dieser Welt zu verewigen?
Bei all den Schwierigkeiten im Einsatz mit dem Stick, hatte ich Momente entdeckt, die er schöner machen kann. Momente, in denen man nicht allein ist, und die man (zumindest während sie entstehen) mit niemandem teilen will.
Hier ein paar meiner Lieblings-Ourselfies aus Mexiko:
Abschluss-Fazit: Wer wie ich auf der Jagd nach Lächeln und anderen menschlichen Gefühlsausbrüchen ist, braucht einen Selfie-Stick! 🙂
Dein Gregório Jones
P.S. Und? Wann kaufst Du dir deinen ersten eigenen Selfie-Stick?
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