30 Grad, Sonnenschein, Palmen. Das Leben des Gregório Jones ist schon beneidenswert. Außer eben in dieser einen Woche um Weihnachten herum. Denn da sehnt er sich nach winterlichem Schnee, geschmückten Weihnachtsbäumen, Christstollen und Heimat. Dabei gibt sich Südamerika die größte Mühe ihn in Weihnachtsstimmung zu bringen.
Schon im Oktober wurde der kleine Park vorm Apartment von Agnes in Bogota mit künstlichen roten Ahornbäumen dekoriert. Ahornbäume werdet ihr euch, wie ich, fragen? Die sind halt das Wahrzeichen von Kanada … und in Kanada liegt bekanntlich Schnee.
Ende November war die Wohnung der Familie von Carlos in Quito schon so weihnachtlich dekoriert, dass die meisten deutschen Familien neidisch wären. Ein perfekter Weihnachtsbaum mit Dekogeschenken. Eine Miniaturweihnachtstadt mit kleinenSpielzeug-Karussels. Ja, selbst der Toilettendeckel war bereits festlich geschmückt.
Im Dezember dann die Suche nach deutschen Leckereien in Buenos Aires. Und auch wenn mir völlig schleierhaft ist, warum sich hinter deutscher Küche im Ausland immer die bayrische Küche verstecken muss, so muss man zumindest auch hier nicht auf Sauerkraut und Würstchen verzichten.
Aber was ist mit dem wichtigsten Teil von Weihnachten? Der Heimat? Um zu verstehen, wie man Heimat in der Fremde findet, will ich euch noch einmal mit zurück nach Kolumbien nehmen, nach Medellin, und euch den wahrscheinlich wahren Grund verraten, warum ich drei Wochen in der Stadt des ewigen Frühlings geblieben bin.
In einer Metro-Station, in der Nähe des Palmtree Hostels
Heute ist mein vorletzter Tag und obwohl ich in den drei Wochen in Medellin viel erlebt habe, war ich etwas nachlässig mit dem Besuchen touristischer Attraktionen. Viel Zeit bleibt heute auch nicht mehr, da ein freundlicher Typ aus dem Fitnessstudio angeboten hat, mit mir zum Friseursalon seines Onkels zu gehen. Und ich brauche dringend einen Haarschnitt (mein Privatfriseur Ben fehlt mir wirklich) Vor ein paar Wochen habe ich mit ein paar anderen Touristen das Metrocable (eine Art Skilift in der Stadt) zum Parque Arvi besucht. Das war schön. Nun hat diese Stadt ein zweites Metrocable. Ich hatte gehört, dass es dort eine Bibliothek und eine Rolltreppe in ein Armenviertel gibt. Die schöne Pilar, die an der Rezeption des Palmtree Hostels arbeitet, hatte mich daraufhin korrigiert. Die Bibliothek befindet sich bei dem Metrocable, welches ich schon kenne und die Rolltreppe ist so tief in dem Armenviertel, dass es für mich nicht sicher ist. Eigentlich lohnt es sich aus touristischer Sicht überhaupt nicht. Zumindest die Aussicht auf die Stadt sei gut, wobei ich bitte unbedingt vorsichtig sein soll.
Während ich so auf die Metro warte, bleibt mein Blick wieder in den Bergen hängen. Ich zücke mein Smartphone und mache wieder das genau gleiche Foto, welches ich immer mache, wenn ich auf die Metro warte. Ein Foto, dass irgendwie versucht festzuhalten, dass ich hier zum ersten Mal in meinem Leben in einer Stadt wohne, die von Bergen umgeben ist. So richtig gelingt es mir nicht diese Faszination im Foto festzuhalten. Und wenn man ganz genau hinschaut, sieht man auch, dass die Berghänge mit einfarbigen Neubausiedlungen zugebaut sind.
auf dem Berg,
Ich erkundige mich bei dem Hilfspolizist nach der aktuellen Sicherheitslage. Er meint es wäre sicher. „Auch für mich?“ frage ich, mich selbst von außen musternd. Er nickt und meint, dass ich gleich links von der Station Fotos machen könnte.
Ich verlasse die Station und werde direkt von einer Gruppe begeisterter Teenager gestoppt. Die Mädchen sind vielleicht zwölf oder dreizehn. Ein kleiner Bruder ist auch dabei. Ich verstehe sie nicht wirklich und antworte einfach, was ich denke, was sie gefragt haben könnten. „Ich wohne in Berlin und reise seit über einem Monat durch Kolumbien.“ Mit meiner linken Hand stelle ich während des Gesprächs sicher, dass sich mein iPhone und mein Portemonnaie sicher in meiner Hosentasche befinden. Ich verabschiede mich freundlich und gehe weiter nach links zu dem Aussichtspunkt. Dabei prüfe ich die Umgebung. Etwas höher am Hang beginnt eine dieser Neubausiedlungen mit einem rot-weißen Haus in der Mitte. Unterhalb von mir liegt die Stadt im Feierabend-Smog. Dass ich scheinbar der einzige Tourist bin, beunruhigt mich gerade tatsächlich etwas.
Beim Aussichtspunkt angekommen, drehe ich mich unauffällig nach links und rechts um und mache schnell zwei drei Fotos. Ich muss mir dringend mal ein Schutzhülle für mein iPhone holen, damit es nicht ganz so offensichtlich wertvoll wirkt. Ich hoffe, dass mich keiner beobachtet hat und gehe zügig zurück zur Station.
„Hola, Hola“ kreischt es von der andern Seite. Die Mädchen sind wieder da. Diesmal haben sie noch eine Mutti im Schlepptau. Ob wir ein Foto machen können, fragen sie. (diese Frage verstehe ich inzwischen) Ich willige ein. Die neonfarbenen Blackberries der Mädchen werden gezückt und die Mutti schlüpft in die Rolle der Fotografin. Mein Wille unbedingt vorsichtig zu sein beginnt mit meiner Dokumentationslust zu konkurrieren. Meine linke Hand ist fest in meiner linken Hosentasche, sie umfasst das iPhone, und so ganz langsam bewegt sie sich inklusive Telefon nach außen. „Können sie damit auch ein Foto machen?“ Ich reiche der Mutti mein iPhone. Sie schaut mich an und fragt wie die Technik genau funktioniert. Ich erkläre es ihr. Während ich mein Gesicht für mein Fotolachen einfriere, meldet sich wieder der Zweifel, ob ich das Telefon mit all meinen Fotos der Reise wirklich zurückbekomme. Aber alles geht gut und sie fragt mich ganz professionell, ob ich mit den Fotos zufrieden bin. „Muy bien“ „Sehr gut“ antworte ich befreit. Ich beschließe mit den Mädchen eine Facebook-Freundschaft zu schließen um später die Fotos austauschen zu können.
Dieses Mal ist die Verabschiedung von meiner Seite ehrlich herzlich.
Über Vorsicht: Ich hatte das Gespräch neulich mit Agnes, als ich ihr in Buenos Aires wieder begegnet bin. Sie ist eine sehr gute Freundin von Miguel und arbeitet in Bogota für die deutsche Botschaft. Das Ärgerliche ist, dass Südamerika wirklich gefährlicher ist als Europa. Damit man sicher bleibt, muss man Regeln beachten (bestimmte Viertel meiden, nachts nicht allein spazieren, etc.) Das Problem der Vorsicht ist, dass man in 9 von 10 Fällen jemanden Unbekannten zu Unrecht in eine böse Ecke steckt. Die Motivation ist verständlich. Wir wollen halt so gern ganz sicher gehen, diesen einen Fall zu vermeiden, in dem uns unser schönes Smartphone samt all der schönen Urlaubserinnerungen gestohlen wird. Auf keinen Fall wollen wir unsere Freunde sagen hören „Hab ich dir ja gesagt“. Manchmal ist das aber falsch und das richtig zu unterscheiden ist schwer.
doch Moment … Vorsicht ist gar nicht das Thema dieser Geschichte …. aber sie ist auch noch nicht zu Ende…
Ich bin in guter Stimmung und habe Lust diese Ecke der Stadt noch etwas zu erkunden. Die Neubausiedlung vor mir fasziniert mich. Sie ist überhaupt nicht schön, aber irgendwie erinnert sie mich an den Plattenbau in dem ich aufgewachsen bin. Ob ich hier vielleicht auch ein paar Fotos machen kann? Auf einer Parkbank vor einem Maria-Gemälde frage ich zwei ältere Herren. „Ist das sicher hier?“. Sie bestätigen und ich glaube ihnen gern.
Während ich knipse und durch die Siedlung laufe, regt sich in mir ein leicht euphorisches Gefühl. Vielleicht, weil ich meine Übervorsicht für einen Moment abgestellt habe? Vielleicht auch weil ich an einem Ort bin, wo Touristen sonst nicht sind? Nein. Das stärkste Gefühl an diesem nicht wirklich schönen Ort ist ein Gefühl von Heimat. Ich stelle mir vor, wie die Kinder auf den Treppengeländern sitzen und „Ich schicke eine Brief an …“ spielen. Oder wie sie sich das erste Mal in das Mädchen oder den Jungen aus dem Nachbarblock verlieben. Ich glaube keiner der Vorbeilaufenden versteht, warum ich gerade lächele.
Ich schaue mich um und mein Blick fällt wieder auf das rot-weiße Haus. Eine Gruppe Frauen macht davor Sport. Ich überlege, ob Pilar vielleicht doch unrecht hatte und hier tatsächlich eine Bibliothek ist. Das einstöckige Gebäude hat eine Glasfassade, durch die man durchschauen kann. Ich bin neugierig.
Ich schaue durch die Glasfenster und sehe spielende Kinder und ein paar Erwachsene. Mir wird sehr schnell klar, dass das hier keine Bibliothek ist. Das ist eine so genannte Ludotheka – ein Kindergarten. Ich bin total fasziniert und nehme Blickkontakt mit der Kindergärtnerin auf. Sie lächelt und winkt mich herein. Ich erzähle ihr, dass mich diese ganze Gegend irgendwie an den Ort erinnert, in dem ich aufgewachsen bin. „Könnte ich vielleicht Fotos machen? Natürlich ohne die Kinder.“ frage ich sie, jetzt doch etwas eingeschüchtert. „Gern“ sagt sie. Dann fragt sie mich, ob die deutsche Touristin, die sich vor der Tür gerade mit dem Sicherheitsbeamten unterhält auch zu mir gehört. „Nein“ sage ich erstaunt. Scheinbar bin ich nicht der einzige, der diesen Ort fälschlicherweise für eine Touristenattraktion gehalten hat. Ich bahne meinen Weg durch Spielsachen und tobende Kleinkinder. Das Alphabet-Puzzle gibt es hier mit „ñ“. Ansonst wären die meisten Spiele auch in Deutschland einsetzbar. Ich sehe eine Beschwerdebox für Kleinkinder. Und in einer Ecke gibt es Kostüme mit denen sich die Kleinen zum Spielen verkleiden können.
„Hola, Hola“ Ein paar Fünfjährige schauen mich neugierig an. Wo ich herkomme, was ich hier mache und was meine Lieblingsfußballmanschaft ist, wollen sie wissen. „Ich wohne in Berlin, bin ursprünglich aus einer Stadt im Osten Deutschlands. Ich reise seit über einem Monat durch Kolumbien und mir gefällt Medellin sehr gut. … Lieblingsclub: Borussia Dortmund (wobei das gelogen, aber praktisch ist, da sie alle das Team kennen)“ Dann sprechen wir über Recycling. Die Kindergärtnerin steht jetzt auch wieder dabei. Sie versucht das Thema den Kleinen gerade zu vermitteln. Sie staunen nicht schlecht darüber, dass wir in Deutschland Glas nach Farben trennen.
„Hast Du Geld aus Deutschland dabei?“ Ich finde in meinem Portemonnaie noch einen Glücks-Cent. Der liegt da, seit mir meine Schwester Laura das Portemonnaie zum Geburtstag geschenkt hat. Ich erzähle von meiner Familie und dass Laura gerade mit ihrem Freund Patrick durch Australien reist (Link zum Reiseblog).
„Hast du Fotos aus Deutschland?“ Ich blättere durch die Fotosammlung meines Telefons. Über 5000 Fotos habe ich auf dem Telefon. Und nach dem ich ganz lange zurück geblättert habe, finde ich tatsächlich noch etwas. … Weißer Schnee, ein hübsches blondes Mädchen. Die Kleinen sind ganz aus dem Häuschen.
März 2013 (Ostern) in der sächsischen Schweiz,
Ich hatte ja eigentlich gedacht, dass wenn ich den ganzen Februar in Südamerika bin, ich danach in den deutschen Frühling zurückkommen würde. Nun ist Ende März und es liegt immer noch Schnee. Zumindest Ostereier suchen, sollte dieses Jahr einfacher sein. Statt wie in anderen Familien die Tradition des Ostereier suchens nach dem Kindesalter abzuschaffen, ist sie bei uns erhalten geblieben, und mit Rätseln und kniffligen Verstecken einfach noch komplizierter geworden.
Ich stehe mit Laura und Patrick auf einem Berg und wir beobachten die Eltern, die weit unten den einfacheren Talweg genommen haben. „Mein Sabbatical ist jetzt genehmigt“ sage ich. „Ab September bin ich wieder in Südamerika. Diesmal 6 Monate. … Was machen deine Pläne?“ „Kommt noch drauf an, wie das jetzt genau mit den Kursen für den Master funktioniert, aber höchstwahrscheinlich dann auch ab September“ meint Laura. „Und wie lange?“ „Auch ein halbes Jahr“. Die Eltern sind kleine Punkte auf dem fernen Weg im Tal. Wir winken ihnen zu und tatsächlich winken sie zurück. Dann verschwinden sie hinter der nächsten Weggabelung. „Wir sind dann halt beide nicht zu Weihnachten da.“ „Stimmt. … Und zu Omas und Opas runden Geburtstagen auch nicht.“ „Hmm … Aber dafür machen wir einfach eine riesige Familienfeier, wenn wir wieder kommen. Mit Weihnachtsgans, Geburtstagstorte, Nussknackern, Oserhasen, Weihnachtsbaum und Ostereiern. Das wird ein herrliches Einachtsfest.“
Heimat – manchmal findet man sie an ungewöhnlichen Orten. Und definitiv ist Heimat der schönste Ort für Weihnachten. Und für alle die Weihnachten nicht in der Heimat sein können gibt es – Klimawandel sei dank – immer noch Einachten.
….
Und da das tatsächlich die letzte Folge für dieses Jahr ist, gibt es auch noch eine kleine Zugabe
1986, auf dem Fußweg vorm Bernsdorfer Hang 11, Karl Marx Stadt, DDR
Ich bin 5 Jahre alt (weswegen das vielleicht ein Fantasie-Flashback sein könnte). Mein Opa Herbert hat mir dieses Kinderauto gebaut mit dem ich über den Fußweg heizen kann. Meine Mutti schaut, dass mir nichts passiert. Sie unterhält sich mit einer anderen Mutti. Das vierrädrige Kinderauto ist perfekt für mich, da ich noch nicht Fahrradfahren kann. Nur ein bisschen langweilig ist mir. Freunde zum Spielen wären jetzt praktisch. Da kommt plötzlich die Tochter der anderen Mutti. Die Familie ist ein bisschen später als wir in den Plattenbau eingezogen. Wir wohnen im sechsten, sie im zweiten Stock. Tina heißt sie. Und Tina hat, genau wie ich, Lust den neuen Sandkasten vor dem Hügel hinterm Haus auszuprobieren.
…
Heute ist der 22.12.2013. Dass Tina und ich über 25 Jahre später immer noch Freunde sind, ist schon sehr besonders. Erst war ihre Mutti meine Kindergärtnerin. Viele Jahre später war meine Mutti dann ihre Lehrerin in der Ausbildung zur Logopädin.
Bei Tina würde ich nicht mal eine Sekunde nachdenken, ob es vielleicht falsch wäre sie nach Mitternacht anzurufen. Und wenn sie tatsächlich mal nicht rangehen könnte, würde sie mich innerhalb von Minuten zurückrufen. Heute ist der 22.12. und heute ist ihr Geburtstag.
Liebe Tina, ich wünsche dir alles Liebe zum Geburtstag und eine fantastische Geburtstags-/Weihnachtsfeier.
Und allen Lesern von Sabbaticalism, wünsche ich ein erholsames Weihnachtsfest in der Heimat und ein fulminantes Wiedersehen in 2014
Euer Gregório Jones
und Next in 2014: Catching Smiles around the Globe. Was sonst. 🙂